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»Die Zukunft ist eine Entscheidung«

Am 10. Oktober feiert Strauss 2225: Dances for the Future im NEST Premiere. Eine außergewöhnliche Uraufführung der Jugendkompanie der Ballettakademie der Wiener Staatsoper, für die der kanadische Choreograf Robert Binet die unterschiedlichsten künstlerischen Stimmen aus der ganzen Welt vereint hat. Im Gespräch mit Nastasja Fischer erläutert er seine Auseinandersetzung mit Johann Strauss’ Erbe und die Frage, in welcher Welt wir in 200 Jahren tanzen.
Was war deine erste Reaktion, als Alessandra Ferri dich für eine Uraufführung für das Johann-Strauss-Jubiläumsjahr angefragt hat?
Natürlich kannte ich Strauss und seine Musik, aber besonders spannend fand ich, dass es sein 200. Geburts- und kein Todestag ist. Das heißt Aufbruch, nicht Ende. Ich habe mich gefragt: Was bedeutete Strauss’ Musik eigentlich in seiner Zeit? Und mir wurde klar: Die Menschen gingen nicht zu den Konzerten, um ehrfurchtig zuzuhören, sondern um die ganze Nacht zu tanzen, sich zu amüsieren – so intensiv, dass die Schuhe durchgetanzt waren. Diese Vorstellung empfand ich als sehr lebendig und zeitgemäß.
Zur selben Zeit las ich The Future We Choose von Christiana Figueres, einer international anerkannten Vorreiterin in Sachen Klimaschutz. Darin zeichnet sie zwei Szenarien: eine bessere Welt, wenn wir uns aktiv für den Klimaschutz einsetzen, und eine düstere, wenn wir es nicht tun. Entscheidend ist: Wir haben die Wahl. Dieser Gedanke hat mich stark geprägt – und das auch im Hinblick auf den Tanz. Ich werde oft gefragt: »Wohin entwickelt sich das Ballett?« Und meine Antwort ist: Wir entscheiden das. Es ist eine bewusste Wahl, wohin diese Kunstform geht.
Das heißt also, du wolltest für Strauss 2225: Dances for the Future nicht nur 200 Jahre zurückblicken, sondern auch 200 Jahre voraus?
Genau. Wer auf zwei Jahrhunderte Geschichte schaut, hat auch die Verantwortung, zwei Jahrhunderte in die Zukunft zu denken. Die letzten 200 Jahre prägen die nächsten. Da stellte sich für mich die Frage: Wer wird der Strauss der Zukunft sein? Vielleicht wäre das eine Persönlichkeit wie Lady Gaga – jemand, der Musik schafft, die Menschen verbindet und sie die ganze Nacht tanzen lässt. Mich interessiert dabei nicht nur der Tanz selbst, sondern auch: In welcher Welt werden Menschen in 200 Jahren tanzen?
So ist die Uraufführung für das NEST nicht nur eine choreografische, sondern du hast auch neue Musik und Libretti in Auftrag gegeben. Warum war das wichtig?
Wenn man über die Zukunft spricht, darf es nicht nur aus einer einzelnen Perspektive sein. Das ist das Problem der Geschichtsschreibung. Also wollte ich viele Stimmen einbeziehen. Ich habe zunächst vier Autor*innen, die sehr unterschiedliche Blickwinkel haben, eingeladen, Texte zu schreiben: Christiana Figueres, weil Klimafragen das Bild der Zukunft entscheidend prägen werden; Donald Byrd, ein US-Choreograf, dessen Arbeit sich mit sozialer Gerechtigkeit und der Black Experience auseinandersetzt; Devon Healey, eine blinde Wissenschaftlerin und Autorin, die Blindheit als eigene Art des Sehens versteht und eine ganz besondere Sicht auf die Welt einbringt; und schließlich drei Jugendliche – zwei junge Komponist*innen und eine junge Tänzerin und Choreografin. Ihre Perspektive ist mir wichtig, weil sie die Zukunft am unmittelbarsten betrifft.
Parallel habe ich mit dem Musikkurator Andreas Vierziger Komponist*innen gesucht, die unterschiedliche musikalische Sprachen mitbringen: Gity Razaz aus den USA, die im Iran geboren wurde; Annamaria Kowalsky aus Österreich als lokale Stimme; Gediminas Žygus aus Litauen/Berlin mit elektronischer Musik, die auch in einem Club gespielt werden könnte; und Claire M Singer aus Schottland.
Nachdem die vier Texte vorlagen, habe ich sie den Komponist*innen zugeordnet. So entstand für das Ballett eine Struktur von vier Teilen – jeweils geprägt von Text und Musik.

Waren die Texte auch Inspiration für die Choreografie oder nur Ausgangspunkt für die Komposition?
Sie sind auf jeden Fall in den Entstehungsprozess der Choreografie eingeflossen. Mal bildet der Text den Ausgangspunkt, mal die Musik. Ich stelle mir das Ballett wie eine Ausstellung vor: Vier große Gemälde hängen nebeneinander, gleich groß, aber völlig unterschiedlich gestaltet. Jedes ist ein eigener Kosmos, und doch gehören sie zusammen.
Wie viel Strauss ist tatsächlich in den Kompositionen zu hören?
Es gibt in allen vier Stücken Strauss-Zitate. In manchen sind sie sehr deutlich zu erkennen, in anderen eher versteckt. Aber auch choreografisch zitiere ich ihn – etwa mit Walzer-Anklängen. Mir geht es weniger um das Wiedererkennen einzelner »Hits«, sondern um die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft. Interessant ist die Spannung: Die Texte sind überraschend hoffnungsvoll, die Musik eher melancholisch. So entstehen Licht und Schatten nebeneinander – genau wie die Zukunft, die immer komplex und widersprüchlich sein wird.

Du choreografierst das Stück für die Jugendkompanie der Ballettakademie. Wie wichtig ist dir der Coaching-Aspekt?
Ich sehe die Tänzer*innen nicht als Schüler*innen, sondern als Partne*rinnen. Das ist auch für sie eine große Transition: Der Mensch, der im Ballettsaal vor ihnen steht, ist nicht ihr Lehrer, sondern vielmehr ein Kollaborateur. In der ersten Woche haben wir die Texte gemeinsam gelesen, darüber gesprochen und daraus Bewegungen entwickelt – mehr auf Basis ihrer Eindrücke als meiner. So lernen sie, Ideen einzubringen, Fragen zu stellen, selbst Lösungen zu finden. Das erfordert Mut, aber die Tänzer*innen gestalten den Prozess mit einer großen Offenheit. Für mich ist wichtig, dass ihre Stimmen im Stück spürbar sind. Denn nur wenn es sich für sie authentisch anfühlt, kann es auch für das Publikum echt wirken.

Wie würdest du den Ansatz deiner Bewegungssprache beschreiben?
Ich versuche, dass man auf der Bühne zuerst die Menschen und nicht die Tänzer*innen sieht. Ballett ist im physischen Sinn oft unnatürlich, nicht im emotionalen. Aber deshalb suche ich nach Wegen, es menschlich wirken zu lassen. Das heißt, im Idealfall bemerkt das Publikum nicht die interessanten Schritte zuerst, sondern die Persönlichkeiten, die sie tanzen. Die Jugendkompanie ist dabei ein Geschenk: zwölf sehr unterschiedliche Individuen, jede*r mit eigener Farbe. Diese Vielfalt bereichert die Arbeit ungemein. Und es passt wunderbar in den Kontext von Alessandra Ferris erster Saison als Ballettdirektorin: Ihre Kunst war immer von Menschlichkeit geprägt, nicht bloß von Technik. Es ist mir wichtig, genau das in den Vordergrund zu stellen.